Psychologische Sicherheit – Buzzword, Trend oder echter Kulturhebel?
Interview mit Birte Weiner zu ihrer Zertifizierung als Fearless Organization Scan Accredited Practitioner
- Was hat dich dazu motiviert, die Zertifizierung zum Fearless Organization Scan Accredited Practitioner zu absolvieren, und wie hat sie deine Arbeit als Beraterin beeinflusst?
Unsere Arbeit stützt sich auf die Prinzipien der ‚Fearless Organization‘. Uns ist es besonders wichtig, aktiv unseren Beitrag zu einem sicheren Rahmen zu leisten. Diese Zertifizierung war also keine radikale Neuerung, sondern eine Bestätigung dessen, was wir bereits machen: psychologisch sichere Räume zu schaffen. Besonders freut mich, dass wir dabei sind jetzt offizieller Partner der "Fearless Organization" zu werden und ich als eine der ersten Beraterinnen die Zertifizierung zum Fearless Organization Scan Accredited Practitioner durchführen durfte.
Psychologische Sicherheit ist essenziell, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Lernen und Wachstum möglich sind. Wenn ich Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen will, müssen sie sich sicher fühlen sich ausprobieren zu können. Als Beraterin oder Trainerin sehe ich es darum als meine Aufgabe an, mir meines Einflusses bewusst zu sein und mich entsprechend zu verhalten, um wirklich wirksam zu arbeiten.
Durch die Zertifizierung habe ich nun die Möglichkeit, unseren Kunden nicht nur theoretisch zu erklären, was psychologische Sicherheit ist, sondern sie auch mit einem validen, objektiven Instrument messbar zu machen. Das bietet Teams und Führungskräften die Möglichkeit, genau die Themen zu adressieren, die für sie wirklich relevant sind. Ein großer Vorteil des Messverfahrens ist, dass jede Stimme gleichwertig behandelt wird und unabhängig von Status oder persönlichen Vorerfahrungen gehört wird.
Das bedeutet: Die Ergebnisse der Umfrage liefern eine objektive Einschätzung, die für sich steht – frei von subjektiven Interpretationen wie "ja, das eine Mal…normalerweise läuft das ganz anders bei uns..". Dadurch können wir in einen offenen Dialog gehen, um die Hintergründe der Antworten besser zu verstehen. So schaffen wir die Basis für gezielte und wirksame Maßnahmen, die den Arbeitsalltag unserer Kunden nachhaltig verbessern.
- Kannst du uns einen Einblick geben, wie der Team-PSI-Prozess abläuft? Wie unterstützt du Teams und Führungskräfte dabei, die Ergebnisse zu interpretieren und Maßnahmen abzuleiten?
Der standardisierte Team-PSI-Prozess* folgt einem strukturierten Ablauf, der mit einer Sensibilisierung des Teams und der Führungskräfte beginnt. Nach einer Online-Befragung bereiten sich die Führungskräfte auf den gemeinsamen Teamworkshop vor. In Summe beträgt der Zeitaufwand für die Führungskraft etwa 1,5 Tage, während das Team insgesamt rund 9 Stunden involviert ist.
Meine Rolle ist es, das Team und die Führungskräfte während des gesamten Prozesses zu unterstützen. Ich moderiere Feedback-Sessions, um gemeinsam mit den Teilnehmenden die Ursachen der Ergebnisse zu diskutieren und daraus Maßnahmen und ggf. Folgeschritte abzuleiten, die die psychologische Sicherheit erhöhen. Besonders wichtig ist mir, dass diese Maßnahmen wirklich bedarfsgerecht sind und die Teilnehmenden gut unterstützt fühlen.
Zusätzlich gibt es den EPSI (Enterprise-PSI), der das gesamte Unternehmen einbezieht.
Er ermöglicht einen Pulscheck der Unternehmensstimmung und hilft zu identifizieren, ob an dieser Stelle Handlungsbedarf besteht. Dieser Prozess hängt stark vom spezifischen Setting und den Anforderungen der Organisation ab und kann individuell bei mir angefragt werden.
(Einen Überblick zum genauen Ablauf finden Sie ganz unten auf dieser Seite)
- Gab es in deiner bisherigen Arbeit mit dem PSI überraschende Erkenntnisse, die dich oder deine Kunden besonders beeindruckt haben?
Was mich besonders beeindruckt hat, ist, wie viel Informationen wir allein aus der Team-PSI-Auswertung gewinnen können – und das noch bevor der Workshop überhaupt beginnt. Bereits durch die Ergebnisse erhalten wir tiefgehende Einblicke in die Dynamiken des Teams. Dadurch können wir im Workshop gezielt an den Themen arbeiten, die wirklich relevant sind, statt diese erst vor Ort mühsam herauszufinden.
Die Umfrage ist in Dimensionen wie ‚Offenheit in Gesprächen‘, ‚Einstellungen zu Risiko und Misserfolg‘, ‚Hilfsbereitschaft‘ und ‚Inklusion und Diversität‘ gegliedert. So konnte ich beispielsweise bei einem Team erkennen, dass es zwar eine hohe Hilfsbereitschaft gab, sich jedoch einige Teammitglieder nicht wirklich als Teil des Teams fühlten. Unter solchen Bedingungen ist es kein Wunder, dass offene Kommunikation kaum stattfindet. In solchen Fällen wird es entscheidend, herauszufinden, warum sich jemand nicht zugehörig fühlt und welche Auswirkungen das auf die gesamte Teamdynamik hat.
Besonders hilfreich ist dabei die Objektivität der Ergebnisse. Diese können nicht ‚wegdiskutiert‘ werden. Wenn ein niedriger Wert in der Auswertung auftaucht, obwohl alle Beteiligten sagen, sie hätten alles ‚gut bewertet‘, stellt sich automatisch die Frage: Woher kommt der Wert? Diese Klarheit schafft eine solide Grundlage für Gespräche und ermöglicht eine echte Offenheit – jenseits von bloßem ‚Pleasing‘. Es ist immer wieder beeindruckend, wie schnell wir durch diese Auswertung zu den wahren Herausforderungen eines Teams vordringen können.
- Welche Herausforderungen treten häufig auf, wenn es um psychologische Sicherheit in Teams geht und wie gehst du mit diesen Herausforderungen um?
Während meiner Zertifizierung habe ich mit etwa 30 Führungskräften und Geschäftsführungen über den PSI-Prozess gesprochen. Eine der größten Herausforderungen war es, das Thema überhaupt zu platzieren. Oft wurde angenommen, dass psychologische Sicherheit kein Problem darstellt oder das Thema als "zu weich" oder "übertrieben" empfunden, obwohl es in diesem Kontext eigentlich tatsächlich um die Steigerung der Performance** geht. Interessanterweise gab es in diesen Gesprächen jedoch schon Hinweise, bei denen ich mich gefragt habe, ob sich wirklich alle trauen sich einzubringen. Es lohnt sich also, einen genaueren Blick darauf zu werfen, selbst wenn es nur darum geht, Handlungsbedarf an der Stelle auszuschließen. Wir können nicht entscheiden, ob andere sich sicher fühlen – das können nur die Menschen selbst.
Ein besonders prägnantes Beispiel stammt aus einer Firma, die nach außen hin ein extrem positives, aber toxisches Umfeld präsentierte. Das Problem ist, dass ein Mangel an psychologischer Sicherheit nicht einfach ignoriert werden kann, denn der äußert sich in Widerstand, auf den oft mit übertriebenen Motivationsaktionen reagiert wird, was eine ungünstige Dynamik erzeugt. Sätze wie "Schakka" und "Wir haben uns alle lieb" sind in diesem Kontext absolut kontraproduktiv. Sie führten eher zu vermehrten und stärkeren Forderungen, die als Kompensationsversuch von Unglaubwürdigkeit und empfundener Unfairness eingesetzt werden.
In meiner Rolle kann ich solche Beobachtungen nur ins System spiegeln und versuchen, das Thema so weit oben wie möglich zu platzieren. Es braucht viel Bewusstseinsarbeit und Gespräche, um das Thema überhaupt ernsthaft diskutieren zu können. Genau hier finde ich den PSI-Prozess so wertvoll, weil er eine metrische Einschätzung subjektiver Gefühle liefert. Das macht die Situation greifbarer, auch wenn die Zahlen nur ein Stimmungsbild liefern. Wichtig ist, die Ursprünge der Wahrnehmung zu verstehen – und das ist in diesem Kontext extrem komplex und oft eine Herausforderung.
Psychologische Sicherheit lässt sich nicht einfach als "Tool" überstülpen; es ist kein neues Thema und uns vielleicht eigentlich schon bekannt. Aber die Frage ist: Verhalten wir uns automatisch "richtig", nur weil wir glauben zu wissen was wir tun müssen bzw. halten wir uns tatsächlich daran? Oder gibt es vielleicht auch unbewusste Handlungen und Aussagen, mit denen wir genau das Gegenteil bewirken? Ein Gefühl der Sicherheit muss tief in die Team- und Unternehmenskultur eingebettet werden. Das führt manchmal zu Frustration, weil es zu Beginn anstrengend und herausfordernd ist.
- Wie stellst du sicher, dass die psychologische Sicherheit in einem Team langfristig erhalten bleibt, und welche Rolle spielt dabei die Führungsebene?
Ich denke, es ist wichtig, diese Prozesse als fortlaufend zu betrachten und nicht zu erwarten, dass das Sicherheitsgefühl stabil bleibt. Es bleibt immer ein fragiles Konstrukt, das gepflegt werden muss. Wichtig ist Herausforderungen nicht wegzuwischen, sich den Themen zu stellen, auch Fehler machen und diese zugeben. Eingeständnisse bedeuten nicht, zu versagen, sondern den ersten Schritt in eine neue Richtung zu machen. Es kann schmerzhaft sein, aber wie bei einer Wunde ist es notwendig, den Eiter herauszulassen, um die Heilung zu beginnen.
Mir persönlich bereitet es große Freude, den Rahmen so zu gestalten, dass dieser Prozess ermöglicht wird und Menschen ehrlich und authentisch zusammenwachsen. Doch eine entscheidende Erkenntnis meiner Arbeit ist: Dieser Prozess muss von der obersten Führungsebene nicht nur getragen, sondern vorgelebt werden. Das Thema in einer bestimmten Abteilung zu parken, mag funktionieren, aber nur, wenn es ein echtes internes Anliegen der Beteiligten ist. Gibt es Unsicherheiten auf systemischer Ebene oder in der Führungsspitze, dann kann dieser Prozess auf den unteren Ebenden nicht wirklich wirksam werden oder zumindest ist es dann ein viel langwieriger Weg, bei dem echtes Durchhaltevermögen von allen gefragt ist.
- Wie geht ihr selbst mit der psychologischen Sicherheit bei euch im Team um?
Auch wir arbeiten in einem sehr dynamischen Umfeld. Eines meiner Lieblingsziele ist es, dass wir uns entbehrlich machen wollen. Wenn wir erfolgreich arbeiten, braucht uns unser Kunde für das gebuchte Thema nicht mehr. Bedeutet aber auch, dass wir uns in einer ständig bestehenden Akquise befinden. Was mir total hilft und was ich auch versuche, meinen Teammitgliedern zu ermöglichen, ist, immer einen sicheren Raum vorzufinden, in dem alles ausgesprochen werden kann. Antworten nicht vorweg zu nehmen, sondern Fragen zu stellen.
Arne [Heykes] nannte das mal "Always Beta". Das finde ich sehr hilfreich, denn es bedeutet, dass bei uns nichts "immer schon so war", Entscheidungen sich als Fehlbar herausstellen können und alles diskutiert werden kann, wenn wir an Grenzen stoßen. Darum können wir auch äußern, wenn wir auf Unsicherheiten treffen. So sind wir z.B. zu der Maßnahme gekommen spezifisches Mentoring anzubieten oder dass unsere Mitarbeitenden standardmäßig eine Ausbildung pro Jahr bekommen. Das gibt mir die auch Sicherheit, im Puls der Zeit zu bleiben, tiefer in Themen einzusteigen und intern, wie extern Netzwerke für Sparring zu bilden.
*Der Psychological Safety Index (PSI) ist ein von Professorin Amy C. Edmondson entwickeltes wissenschaftliches Testverfahren, das entwickelt wurde, um den Grad der psychologischen Sicherheit innerhalb von Teams und Organisationen zu messen.
Psychologische Sicherheit bezieht sich darauf, inwieweit sich Mitarbeitende sicher fühlen, Risiken einzugehen, ihre Meinung offen zu äußern und Fehler zuzugeben, ohne Angst vor negativen Konsequenzen zu haben.
Der PSI gibt Einblicke in die Teamdynamik und hilft Führungskräften, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens zu fördern.
**The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth by Amy C. Edmondson, 2018
Überblick über den Ablauf des Team-PSI-Prozesses:
- Kick-off: Zu Beginn führe ich ein 60-minütiges Gespräch mit den Führungskräften und dem Team, um den Prozess zu erklären und die Erwartungen zu klären.
- Online-Befragung: Im Anschluss füllt das Team anonym einen kurzen, standardisierten Fragebogen aus, der die aktuelle psychologische Sicherheit misst. Das dauert etwa 15 Minuten und erfolgt über einen Zeitraum von 1-2 Wochen.
- Coaching: Nach der Auswertung der Ergebnisse gibt es ein 60-minütiges Coaching für die Führungskräfte, um die Ergebnisse zu verstehen und erste Schritte zu planen.
- Teamworkshop: Schließlich führen wir einen ganztägigen Workshop mit dem Team durch, um die Ergebnisse zu diskutieren und gemeinsam Maßnahmen abzuleiten.
- Wenn gewünscht, folgt ein weiterer Prozess oder ein Follow-up, um den Fortschritt zu begleiten und zu überprüfen.
